Herkules Flieh – Teil 3

Da kommt eine englische Fledermaus dahergeflogen und erzählt mir Sachen, von denen ich noch nie gehört hatte und dabei kenne ich mich ziemlich gut aus in der Welt. Ich treffe mich regelmäßig mit meinen Freunden zum Flohstammtisch, wo allerhand Neuigkeiten ausgetauscht werden, lese nicht nur den Sportteil in unserem Flohblatt und in unserer Bücherei auf dem alten Jägerstand bin ich Vielleser-Mitglied. Das heißt, dass ich einmal im Flohmonat mit meiner Tasche aus echtem Fuchshaar drei neue Bücher ausleihe und drei alte zurückgebe. Das kann ich Euch nur empfehlen, denn da waren schon sehr viele spannende Bücher dabei. Ab und zu greift man natürlich auch daneben, so wie bei diesem Buch über Flohfossilien aus dem Fichtelgebirge. Klar, da ging es im Grunde um meine Vorfahren, aber ich fand das irgendwie nicht so spannend.
Aber die meisten anderen Bücher waren Spitzenklasse. „Ein Floh fährt über das Meer“ war zum Beispiel so ein Buch, das ich fast ohne Unterbrechung durchgelesen habe. Nur als die Glühwürmchen gestreikt haben, musste ich für eine Nacht die Lektüre aus der Hand legen. „Schatten über einer Haselmaus“ von Gustav Flohbert war auch super und ich habe alle elf Bände von „Detektiv Masterfloh klärt auf“ gelesen. Für nächste Woche habe ich ein gerade neu erschienenes Buch vorbestellt: „Das Schokodil“ von Flavia Flohmeier. Das hat wahnsinnig tolle Kritiken in der Zeitschrift „Floh Heute“ bekommen, die ich natürlich auch regelmäßig lese. Allerdings darf man diese Zeitschrift nicht ausleihen, sondern muss sie direkt in der Bücherei lesen, weil der Andrang immer viel zu groß ist, als dass sie jeder mal eben für zwei Wochen zu Hause liegen haben kann.
Trotz alldem wusste ich nichts von linksfahrenden Autos, geschweige denn von linksfliegenden Fledermäusen, hatte noch nie gehört, dass man Flexitarier sein konnte und bei der Geschichte mit den gefundenen „e“ konnte ich auch nicht mit Sicherheit sagen, ob die geflunkert war oder sogar völlig frei erfunden.
Eine Sache, und das war die wichtigste, wusste ich allerdings ganz genau: Nicht jeder kann werden, was er will. Aber jeder hat eine ganz besondere Fähigkeit, und wenn man die erkennt und etwas daraus macht, dann hat man das Beste geschafft, was man im Leben schaffen kann. Mit dieser Sache hatte ich mich nämlich in meinen Leben viel beschäftigt, weil ich in meiner Jugend unbedingt Nordpolarforscher werden wollte, und gerade noch rechtzeitig jemanden kennengelernt hatte, der mir dabei geholfen hat, herauszufinden, was ich stattdessen tun sollte, weil es viel besser zu mir passt als Nordpolarforscher zu sein. Und seitdem bin ich, was ich immer schon war: Ein Zirkusfloh, und zwar der glücklichste aller Zeiten.
Aber vielleicht erzähle ich Euch diese Geschichte lieber von vorn:
Am Ende meiner Schulzeit bin ich oft mit meinen Freunden auf dem Spielplatz hinter der Schule umhergehüpft und wir haben zusammen überlegt, was wir nach der Schule machen könnten. Theodor Flohringer liebäugelte damals schon seit längerer Zeit mit der Idee, eine Ausbildung zum Arzthelfer zu machen, Meinrad Springmeister wollte zur Post und für Aeneas Schilling war ein Jurastudium nicht ausgeschlossen. Bei Irene Schmalfloh-Huber brauchte man gar nicht erst fragen, denn für alle, die sie kannten, war seit Jahren klar, dass sie Journalistin werden muss. Schon in der dritten Klasse hatte sie Artikel für ihre neu gegründete Schülerzeitung geschrieben und seitdem nicht mehr damit aufgehört. Ich kann mich nicht erinnern, dass man sie in den letzten Jahren einmal irgendwo ohne Kamera und Notizblock getroffen hat.
Sie recherchierte im Wald und auf Wiesen, interviewte Politiker, Schauspieler und Supersportler und in ihrer Kolumne „Mit Irene immer einen Hüpfer voraus“ versuchte sie, auf schwierige Fragen eine Antwort zu finden.
In jeder Ausgabe ihrer Schülerzeitung, die viermal im Flohjahr erschien, nannte sie schon die Frage, die sie bis zur nächsten Ausgabe beantworten wollte, was auch bedeutete, dass man sich drei lange Flohmonate selbst Gedanken über die Lösung machen konnte. „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“, war zum Beispiel so eine schwierige Frage, die Irene in einer Ausgabe ankündigte. Ich fing damals an, mir Gedanken zu machen und überlegte Tag und Nacht und hin und her. Aber Antwort fand ich keine, so dass ich schließlich meine Eltern gefragt habe.
Als die es allerdings auch nicht wussten, wo sie doch bisher alle meine Fragen beantworten konnten, gab ich auf und musste das Erscheinen der nächsten Ausgabe abwarten. Nach ca. drei Wochen traf ich Irene aber zufällig in der Apotheke und da ich wie die meisten jungen Flöhe sehr ungeduldig war, habe ich sie einfach gefragt, wie es denn jetzt sei, eine Fledermaus zu sein. „Es tut mir leid“, hat sie geantwortet, „ich weiß die Antwort selbst noch nicht, weil ich noch mitten in der Recherche bin. Deshalb habe ich jetzt auch leider keine Zeit, obwohl ich mich noch sehr gern mit Dir unterhalten würde, ich muss nämlich los zu einem Termin.“ Aber genau in dem Moment, als sie „Termin“ sagte, fiel ihre Tasche herunter und die Schachtel mit Zeitschriften, Notizblock und Stiften, die sie auch noch in der Hand hatte. Beinahe wäre auch noch die Kamera zu Bruch gegangen, die auf der Schachtel mit den Zeitschriften, Notizblock und Stiften lag, wenn ich nicht blitzschnell reagiert und sie aus dem Sprung und noch in der Luft gefangen hätte. „Das ist ja nochmal gut gegangen“ sagte ich innerlich erleichtert und äußerlich betont lässig. Und auch ein bisschen stolz. „Danke Herkules! Du bist ein Schatz und der schnellste und beste Springer, den ich kenne. Machʼs gut und bis morgen in der Schule!“ „Ja, bis morgen“ sagte auch ich und war wahrscheinlich wieder ein bisschen rot geworden, denn immerhin hat das schlaueste Mädchen der Schule eben „Schatz“ zu mir gesagt. Wahnsinn….
Trotzdem musste ich wie alle anderen auf die nächste Ausgabe warten. Weil zwischendurch aber ein paar spannende Sachen passiert sind, wie z.B. die Geburt meiner Schwestern 53-68 und meines 88ten und 89ten Bruders, ich wie immer Hausaufgaben machen musste und Zähneputzen und pünktlich aufstehen, verging die Zeit dann doch wie im Flug, und zwischendurch hatte ich die Frage sogar schon vergessen. Als dann aber die neueste Auflage auf meiner Schulbank lag, war ich gespannt wie ein Flitzebogen und musste nur noch zwei Unterrichtsstunden Flohhochdeutsch und eine Stunde „Richtig zubeißen“ überstehen, bevor ich mir in der großen Pause endlich die Antwort auf die große Frage durchlesen konnte. Dann war es soweit, ich machte es mir auf der Schaukel im Pausenhof gemütlich und las mir Irenes Kolumne durch. Das war aber ein wenig komplizierter, als ich mir das vorgestellt hatte.
Es kamen Wörter vor wie „Argument“, „Existenz“, „Bewusstsein“ und noch viele andere, die ich noch nie gehört hatte oder, wenn ich sie schon mal gehört hatte, einfach nicht verstand. Irene war eben ziemlich schlau. Ganz am Ende stand dann: „Wir können niemals wissen, wie es sich für eine Fledermaus anfühlt, eine Fledermaus zu sein.“ Da war ich etwas enttäuscht, denn ich war fest davon ausgegangen, dass es einen Tricks gibt, durch den man herausfinden kann, wie sich so eine Fledermaus-Existenz oder wie das heißt, anfühlt.
Auch in dieser Ausgabe wurde aber wieder die Frage bekannt gegeben, die Irene in drei Monaten beantworten wollte und sie lautete: Welche Auswirkungen hat das Schmelzen der Polkappen auf die Flohwelt?
Dass das ein ziemlich wichtiges Thema war, war allgemein bekannt, denn durch die Eisschmelze steigt der Meeresspiegel, und da Flöhe – mit Ausnahme der Wasserflöhe – nicht schwimmen können, sind wir davon direkt betroffen. Wie die Zukunft dann allerdings genau aussehen würde, wusste natürlich niemand.
Diese Frage beschäftigte mich noch viel mehr als die letzte und ich wollte mich ausführlich darüber informieren. Und das habe ich dann auch gemacht. Ich bin in die Bücherei gegangen und habe Bücher gefunden, in denen erklärt wurde, welche Bedingungen am Nordpol herrschen und welche Tiere dort leben. Außerdem habe ich Bücher über den Südpol gelesen und erfahren, wann zum ersten Mal eine Expedition dorthin erfolgreich war usw. Was ich allerdings nicht gefunden habe, waren Untersuchungen von Flohforschern zu den Auswirkungen des Schmelzens der Polkappen.
Ich habe natürlich auch meine Mama gefragt, ob sie weiß, was passieren wird, wenn die Polkappen weiter schmelzen, weil sie sich in Erdkunde sehr gut auskannte, aber sie meinte, dass das alles sehr schwierig vorherzusagen sei, v.a. weil es von Flohforschern bisher noch keine Untersuchungen zu diesem wichtigen Thema gebe.
Ich hatte also die Antwort gefunden, dass man diese Frage noch gar nicht beantworten kann und hatte damit wieder etwas ganz Neues gelernt, denn bis dahin waren Fragen etwas, worauf spätestens meine Eltern immer eine Antwort hatten, mit der ich mich dann beruhigt schlafen legen konnte.
Zwar kam es durchaus vor, dass meine Eltern zwei verschiedene Antworten auf eine Frage hatten, aber dann diskutierten sie darüber und am Ende kam eben eine Antwort heraus, auf die ich mich dann verlassen konnte. Das würde von heute an anders sein, denn nun musste ich damit rechnen, dass es nicht nur manchmal mehrere Antworten auf eine Frage gibt, sondern dass es eben auch sein kann, dass es gar keine Antwort gibt.
Aber neben dieser Antwort hatte ich noch etwas gefunden. Etwas, das mein ganzes Leben bestimmen sollte: Meinen Traumberuf!
Ich wollte Polarforscher werden und dahin kommen, wo vor mir noch kein Floh der Welt war. Da ich weiter viele Bücher las und nun wusste, dass es von dort aus, wo ich wohnte, zum Südpol dreimal so weit war wie zum Nordpol, beschloss ich, Nordpolarforscher zu werden und mit ganz viel Proviant, ganz warmen Handschuhen und vielleicht einem Freund dorthin zu gehen. Und natürlich wieder zurück, um den anderen davon zu erzählen. In meinen Träumen sah ich mich auf einem Schlitten auf Eisschollen treiben, mir gegenüber ein Eisbär, der so groß war, dass einem Angst und bange werden konnte. Aber da ich ja so klein war, konnte er mich gar nicht sehen und deshalb brauchte ich mich vor ihm nicht zu fürchten. Ich stellte mir vor, wie ich mir ein Iglu baute um mich darin auszuruhen, bevor ich dann wieder aufbrach, um schließlich zwar erschöpft aber glücklich den Nordpol zu erreichen. Was für ein Gefühl!
Beim nächsten Treffen mit meinen Freunden erzählte ich natürlich allen davon, denn ich war so glücklich zu wissen, was ich machen wollte. Außerdem brauchte ich ja noch jemanden, der mitkommen wollte, denn ganz allein schien mir diese große Reise doch etwas zu gefährlich und ohne Unterhaltung auch ein bisschen zu langweilig. Komischerweise war keiner von meiner Idee so begeistert wie ich. „Sorry, Herkules, ich muss mich nach der Schule auf eine Aufnahmeprüfung für das Jurastudium vorbereiten“, sagte z.B. Aeneas und Meinrad meinte: „Das ist doch viel zu kalt!!!!“ Die Reaktionen der anderen fielen auch nicht viel positiver aus, aber mein Plan stand fest: Ich wollte Nordpolforscher werden und viele wissenschaftlichen Erkenntnisse gewinnen und die Flohwelt damit voranbringen, und wenn es sein musste eben auch alleine.
Vielleicht könnt ihr Euch denken, dass meine Eltern auch nicht gerade frohlockten, als ich ihnen davon erzählte: „Herkules, das geht doch nicht“, sagte meine Mutter und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Diese Reise ist viel zu gefährlich für einen Floh.“ Papa sagte: „Schlag dir das aus dem Kopf, Herkules.“ Und meine Geschwister waren auch keine große Hilfe: „Aber Herkules, wenn Du nicht da bist, wer liest mir denn dann abends was vor?“ fragte meine Schwester Irene – ja, Irene war ein sehr beliebter Name als ich jung war – und Bülent, mein größter Bruder, meinte nur: „Hast Du vielleicht vergessen, dass Du mir im Winter immer die Bettdecke klaust, weil Dir so kalt ist? Und dass Du auf unseren Sonntagsspaziergängen immer der erste bist, der anfängt zu schimpfen, weil ihm der Weg zu weit ist? Wie willst Du denn dann bei eisigen Temperaturen tausende Kilometer weit laufen?“
Die verstanden wirklich gar nichts! An den Nordpol laufen war ja wohl etwas anderes als langweilige Sonntagsspaziergänge und natürlich würde ich mich um eine warme Ausrüstung kümmern, das war ja sowieso logisch. Ich werde Nordpolarforscher, egal was die anderen sagen! Und irgendwer hat schließlich auch mal gesagt, dass man alles werden kann, was man will.
Ich machte mir also sehr viele Gedanken über meine Reise, überlegte mir, wann ein guter Termin für den Start der Expedition wäre und was ich bis dahin alles besorgen musste. Inzwischen hatte ich alle Bücher aus der Bücherei zum Thema Nordpol, Schneewandern, Eisbären, Iglu-Bauen und Kartenlesen auswendig gelernt und fühlte mich gewappnet für alles, was da kommen möge. Nur manchmal fiel mir ein, was mein Bruder gesagt hatte: dass mich ja immer so leicht friert. Das stimmte zwar tatsächlich, sollte mich aber nicht davon abhalten, der erste Floh zu sein, der am Nordpol war. Stattdessen machte ich Abhärtungskuren und trank nur eiskaltes Wasser oder schlief nachts draußen ohne Decke. Man war das eisig! Ich habe kein Auge zugemacht, weil mir so kalt war, konnte meine Zehen nicht mehr spüren und am nächsten Tag hatte ich dann auch eine schlimme Erkältung. Außerdem machte ich riesig weite Wanderungen: Von zu Hause über die Pusteblumenwiese bis zum Jägerstand und dann über den Waldweg zurück. #
Dieses Mal konnte ich meine Füße sehr deutlich spüren, weil ich vor lauter Blasen bei jedem Schritt Schmerzen hatte. Aber ich konnte jetzt nicht aufgeben, ich wollte schließlich der berühmteste Nordpolarforscher der Flohwelt werden. Das mit dem Termin der Abreise hatte ich mir auch leichter vorgestellt, denn ich musste einen wirklich guten finden, wenn ich schon alleine losziehen musste. Die Schule dauerte nur noch zwei Wochen, danach konnte es rein theoretisch losgehen. Vielleicht sollte ich gleich den ersten Montag nach Schulende nehmen? Dann könnte ich am Wochenende in Ruhe packen, mich von allen verabschieden und am Sonntag noch Blutgrütze essen. Vielleicht wäre es aber besser, erst am Dienstag loszugehen, weil manchmal, wenn ich viel Blutgrütze gegessen habe, bin ich so müde, dass ich einen Tag Erholung und ganz viel Schlaf brauche. Dann fiel mir ein, dass meine Eltern an eben jenem Dienstag ein paar ihrer Freunde zum Essen eingeladen hatten und es war immer so schön, wenn wir Gäste hatten, denn dann durften wir Kinder länger spielen und aufbleiben als sonst! Dienstag geht dann nicht. Mittwoch auch nicht, wegen länger aufbleiben am Dienstag. Man war das kompliziert, den richtigen Tag auszusuchen.
Als ich über all das nachdachte, sprang ich wie meistens beim Nachdenken durch die Gegend. Ich war schon im Kindergarten sehr gut im Hüpfen und hatte immer viel Spaß daran, Drehungen in meine Sprünge einzubauen oder z.B. Blumen als Trampoline zu benutzen und damit auf einen noch höheren Ast zu kommen. Manchmal wurde mir leicht schwindlig dabei, und das war ein tolles Gefühl. Ich war also gerade dabei, von meiner Leberblume auf die nächste Pusteblume zu springen und dann weiter bis auf den abgesägten Baumstamm. Von da wollte ich gerade weiter auf die Brombeerhecke als jemand sagte: „Du kannst aber toll springen! So akrobatische Flohhüpfer habe ich noch nicht gesehen.“ Ich sah mich um und konnte zunächst nicht erkennen, wer da gesprochen hatte. Das einzige was mir auffiel, war etwas Glitzerndes in Form eines Wassertropfens auf dem Kleeblatt nebenan, obwohl es gar nicht geregnet hatte. Aber Wassertropfen konnten doch nicht sprechen! Oder doch?


Was meint ihr? Wer hat da gesprochen?
Außerdem sind wir neugierig darauf, was wohl eure Traumberufe sind…. und eure Lieblingsbücher…?
Schreibt uns, wir freuen uns!

Und falls jemand die gleichen Interessen hat wie Herkules, können wir diese Bücher hier empfehlen:

Bjørn Ousland: Reise ins ewige Eis – Wie werde ich Polarforscher
DTV, ISBN 978-3-423-64054-1, 16,95 €

Monika Obermeier: Das Schokodil
Edition Buch&Grafik, ISBN 978-3981469172, 14,90€

Weiter geht‘s mit der Geschichte ab Ende September hier.

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